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Bruxelles-Schaerbeek/B, St.Servais

Portrait einer (fast) vergessenen Orgel

Im Februar 2020 erhielten wir von Jonathan Scott den Link zu einem Video, das er kürzlich an unserer Orgel in Brüssel-Schaerbeek St. Servais aufgenommen hat:

 

 

An dieser Stelle sei ihm herzlich gedankt für die Erinnerung an ein großartiges Instrument aus einer geschmähten Epoche. Aus diesem Anlass sollen hier einige Einblick in die spannende Genese dieses Instruments gegeben werden.

 

Der Brüsseler Stadtteil Schaerbeek liegt nördlich der Innenstadt in der Verlängerung der Rue Royale. Ursprünglich eine Gründung des 12 Jahrhunderts, ist Schaerbeek heute bekannt für seine zahlreichen Jugendstilvillen und Parkanlagen. Die Pfarrkirche St. Servais ist ein neugotischer Bau aus dem Jahre 1876. Die erste Orgel von Loret-Vermeersch mit 33 Registern auf drei Manualen und Pedal aus dem Jahre 1877 wurde 1909 durch die Brüsseler Werkstatt Kerkhoff umgebaut und auf 40 Register erweitert.

 

1933 begann man mit Plänen für eine tiefgreifende Umgestaltung und Erweiterung. Angebote wurden eingeholt von den Werkstätten Klais und Haupt (Lintgen/Luxembourg). Unser Angebot umfasste 55 Register auf vier Manualen bei Wiederverwendung von 27 alten Registern. Das Angebot von Haupt umfasste 62 Register. Durch die politische Entwicklung in Europa und den Ausbruch des Krieges kam das Projekt zum Erliegen.

 

Erst 1948 nahm der damalige Organist der Kirche Paul Eraly wieder Kontakt zu Hans Klais auf. Ein Neubau in der ursprünglich geplanten Größe war aus finanziellen Gründen und aufgrund der vorherrschenden Knappheit an Material zum Orgelbau nicht denkbar. Allerdings lagerten in der Abtei Keizersberg in Leuven/B noch über 1200 Pfeifen und der viermanualige Spieltisch der Klais-Orgel der Brüsseler Weltausstellung von 1935. Die als opus 830 erbaute Orgel hatte 62 Register und wurde nach dem Ende der Ausstellung größtenteils für die neue Orgel der Kathedrale in Gent/B verwendet.

 

_klais/bilder/fotos/Artikel/Schaerbeek/Schaarbeek_2.JPGSpieltisch von opus 830

Durch Übernahme der eingelagerten Klais-Register und des Austellungsspieltisches sowie zahlreicher Register und einiger Windladen der Vorgängerorgel war ein repräsentativer "Neubau" mit 76 Registern möglich. Hauptwerk und Oberwerk verwendeten die alten Schleifladen von Loret-Vermeersch und erhielten elektrische Ergänzungsladen für die Töne gs3 bis c4. Die übrigen Werke erhielten neue Kegelladen.

 

Der Spieltisch musste natürlich der neuen Disposition angepasst werden. Paul Eraly, der in Paris bei André Marchal und Gaston Litaize Improvisation studiert hatte, fragte seine Lehrer um Rat. Litaize brachte Dupré mit in die Diskussion. Das Ergebnis war ein für unsere Werkstatt und die damalige Zeit ungewöhnlich "amerikanisierter" Spieltisch. Während die Tastenumfänge schon 1935 in den Manualen von C bis c4 und im Pedal bis g1 reichten, wurden nun die Klaviaturen gegen solche mit amerikanischer Mensur ausgetauscht. Die parallele Pedalklaviatur wich einer radialen, das Pistonbrett wurde vollkommen neu gestaltet. Sämtliche freien Kombinationen und Zungeneinzelabsteller entfielen zugunsten einer elektrischen Setzeranlage nach amerikanischem Vorbild mit 8 General- und 6 geteilten Kombinationen.

 

_klais/bilder/fotos/Artikel/Schaerbeek/Schaarbeek_3.JPGSpieltisch nach dem Umbau 1953

In dieser Form wurde die Orgel im Januar 1954 eingeweiht. 1959 wurden einige Register (vorwiegend Zungen aus der Vorgängerorgel) gegen neue ausgetauscht. 1965 gab es Pläne für die Ergänzung eines Brustwerkes mit vergoldetem Principal 2' im Prospekt. Dies wurde aber nie verwirklicht. Seitdem steht die Orgel unverändert. Selbst die elektrische Setzeranlage ist im Original vorhanden. Der langjährige Organist der Kirche Léon Kerremans kümmerte sich vorbildlich und fachgerecht um die Erhaltung. Im Jahre 2002 erfolgte eine Reinigung durch unsere Werkstatt.

 

_klais/bilder/fotos/Artikel/Schaerbeek/Schaarbeek_1.JPGZustand 2010

Die Orgeln der frühen 50er Jahre basierten konzeptionell auf den Ideen der Orgelreform, wie sie Hans Klais in seiner Jugend (und unter dem Namen seines Vaters) mit Albert Schweitzer brieflich diskutierte. Sie sind eine äußerst geglückte Synthese zwischen der polyphonen Klarheit der neuerlich geschätzten Barockorgel und der fülligen Wärme der romantisch geprägten Grundstimmen. Ergänzt wurde das Klangbild durch sehr mischfähige Plenumzungen (hier nach französischem Vorbild) und äußerst charakteristische Solozungen, die dem Ideal des Spaltklanges folgen. So ist die Aufnahme Jonathan Scotts ein beredtes Zeugnis für die Erhaltungswürdigkeit von Orgel aus einer Epoche, die heute immer noch mit einer gewissen Verachtung betrachtet wird.

 

Informatie in het Vlaams:

http://www.orgues.irisnet.be/nl/DetailOrgue/139/Orgue-de-tribune-neoclassiqueKlais1953.rvb

 

Informations en français:

http://www.orgues.irisnet.be/fr/DetailOrgue/139/Orgue-de-tribune-neoclassiqueKlais1953.rvb